Viktimologie – Die Wissenschaft vom Opfersein
Viktimologie ist die Lehre vom Opfer – und damit ein zentrales Fundament für wirksame Präventions- und Schutzmaßnahmen.
In der öffentlichen Diskussion über Kriminalität stehen häufig die Täter:innen im Mittelpunkt: ihre Motive, ihre Biografien, ihre Strafverfolgung. Doch um wirksame Schutzkonzepte zu entwickeln, braucht es eine andere Perspektive – die der Betroffenen. Die Viktimologie richtet den Blick genau darauf: Sie untersucht, wie Menschen zu Opfern werden, welche Risikofaktoren bestehen, welche Folgen Gewalterfahrungen haben und wie Betroffene unterstützt und geschützt werden können.
Im Kontext sexualisierter Gewalt gegen Kinder ist viktimologisches Wissen unverzichtbar. Denn gerade in diesem Deliktsbereich zeigt sich, wie gravierend das Leid der Betroffenen ist – oft lebenslang. Viktimologie hilft, dieses Leid zu verstehen, einzuordnen und angemessene Hilfs- und Präventionsmaßnahmen zu entwickeln.
Was untersucht die Viktimologie?
Die Viktimologie erforscht unter anderem:
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Welche Menschen besonders häufig Opfer werden (z. B. Kinder, Menschen mit Behinderung, sozial isolierte Personen),
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Welche Situationen ein erhöhtes Risiko darstellen (z. B. fehlende Aufsicht, digitale Anonymität, Machtungleichgewichte),
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Wie Opfer Übergriffe erleben, verarbeiten und bewältigen,
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Wie das soziale Umfeld – Familie, Schule, Institutionen – auf Opfererfahrungen reagiert,
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Wie der Kontakt mit Polizei, Justiz und Hilfeeinrichtungen erlebt wird (sog. Sekundärviktimisierung)
Warum ist das wichtig?
Weil wir nur schützen können, was wir verstehen. Wenn wir wissen, wie Täterinnen und Täter gezielt Schwächen im System ausnutzen, erkennen wir auch, wo wir ansetzen müssen. Wenn wir verstehen, warum Betroffene schweigen, können wir gezielt Vertrauen und Zugänge schaffen. Und wenn wir die langfristigen Folgen erkennen, wächst unser Anspruch, Gewalt zu verhindern, bevor sie geschieht.
Besonders im Bereich sexualisierter Gewalt gegen Kinder zeigt die Viktimologie:
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Die meisten Taten geschehen im Nahfeld – nicht durch Fremde.
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Viele Betroffene sprechen erst nach Jahren – oder nie.
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Schuld- und Schamgefühle sind häufig größer als das Vertrauen in Hilfe.
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Reaktionen des Umfelds (z. B. Abwehr, Bagatellisierung, Beschuldigung) können traumatisierender wirken als die Tat selbst.
Was folgt daraus für die Präventionsarbeit?
Betroffene müssen ernst genommen werden – immer.
Das beginnt beim Zuhören, geht über das Ernstnehmen bis zur Unterstützung bei der weiteren Hilfe.
Einrichtungen müssen Strukturen schaffen, die Sicherheit vermitteln.
Dazu gehören Ansprechpersonen, klar kommunizierte Verfahren, Sensibilisierung im Team und externe Supervision.
Kinder müssen altersgerecht über ihre Rechte informiert werden.
Nur wer weiß, dass er über den eigenen Körper bestimmen darf, kann „Nein“ sagen – und Ja zu Hilfe.
Erwachsene brauchen Handlungssicherheit.
Viktimologisches Wissen hilft Fachkräften, Signale zu erkennen, sensibel zu reagieren und professionelle Hilfen einzubeziehen.
Viktimologie und Prävention gehören untrennbar zusammen.
Wer den Opfern zuhört, schützt die Nächsten. Wer versteht, was Gewalt anrichtet, handelt früher. Und wer Opfer ernst nimmt, macht Täterinnen und Tätern das Leben schwerer.
bewusstSIGN bezieht viktimologisches Wissen in seine Arbeit ein – weil Kinderschutz mehr ist als Theorie. Es ist Verantwortung.